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Internationaler Tag der Frauen – auch für die „vergessenen Frauen“ auf der Straße

Übernachtungshaus für wohnungslose Frauen in Leipzig | ©Foto: AWW

[Leipzig] 08.03.2018 - Während viele Frauen an diesem Tag einen Blumenstrauß oder eine Schachtel Pralinen als kleine Aufmerksamkeit vom Partner, Vorgesetzten oder von Kollegen als Zeichen der Wertschätzung erhalten, bekommen etwa 250.000 bis 300.000 Frauen in Deutschland wohl nichts dergleichen. Sie haben weder Arbeit noch Kollegen, meist auch keinen Partner und sie haben keine eigene Wohnung.

Laut Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAGW) sind es derzeit 860.000 Menschen, die keine eigene Wohnung haben. 150 % mehr als noch 2014. Ende 2018 sollen es 1,2 Millionen sein. Etwa die Hälfte von ihnen sind Geflüchtete. Aber auch ohne sie gerechnet, ist die Zahl der Wohnungslosen um 25% von 335.000 in 2014 auf 420.000 in 2016 gestiegen. Als wohnungslos gilt, wer keine dauerhafte Wohnung hat und zum Beispiel in Notunterkünften lebt, in denen der Aufenthalt zeitlich begrenzt ist.

Die Zahl der Obdachlosen, d.h. diejenigen, die auf der Straße leben, ist im gleichen Zeitraum ebenfalls um 25%, auf derzeit etwa 52.000, gestiegen.

Grund dafür seien europäische Wanderungsbewegungen, fehlende Armutsbekämpfung und eine Wohnungspolitik, die zu wenig für den sozialen Wohnungsbau getan hat bzw. dass es immer weniger bezahlbaren Wohnraum gibt. Fast ein Drittel der Obdachlosen sind Frauen. Sie trifft es besonders hart. Zwar fallen sie weniger auf, sind weniger auf den einschlägigen Plätzen wie zum Beispiel Bahnhöfen anzutreffen und entsprechen meist nicht dem erwarteten Bild des zerlumpten Penners, aber sie sind längst Realität, vor allem in deutschen Großstädten.

Oft versuchen diese Frauen, ihre Situation so lange wie möglich geheim zu halten. Sie legen in der Regel mehr Wert auf ihr Äußeres als Männer, sodass man ihnen die Obdachlosigkeit nicht ansieht. So suchen sie sich zum Schlafen nicht nur „ein Dach über dem Kopf“, sondern auch Orte, wo wenigstens etwas Hygiene möglich ist und sie ihre Kleidung waschen können. Aber nicht selten wird das von Männern schamlos ausgenutzt, die diesen Frauen einen warmen Schlafplatz gegen Sex anbieten, oder schlimmer noch, sie zur Prostitution zwingen. Einen rechtlichen Schutz haben diese Frauen praktisch nicht. Zu groß sind Scham und Angst, dass man ihnen ohnehin nicht glaubt. Nicht selten kommt es zu Misshandlungen und Vergewaltigungen, die ebenfalls so gut wie nie zur Anzeige kommen. Beinahe jede Frau ohne eigenes zu Hause hat Gewalterfahrungen machen müssen.

Stefanie Nemczak, Leiterin des Übernachtungshauses für wohnungslose Frauen in Leipzig erzählt, warum Frauen auf der Straße leben. Es sind oft die familiären Katastrophen wie Trennung, längere Krankheit, ein Schicksalsschlag oder Überschuldung, der ihnen den Boden unter den Füßen weggerissen hat. Wenn dann noch Alkohol oder Drogen ins Spiel kommen, ist der Abstieg vorprogrammiert.

Oft sei es auch die Flucht vor häuslicher Gewalt, die es ihnen unmöglich machte, in der gemeinsamen Wohnung zu bleiben. Gerade ältere Frauen, aber auch immer mehr junge Frauen unter 30 Jahren, können ihre Angelegenheiten nicht mehr alleine regeln und es ist niemand da, der ihnen dabei hilft. Sie verlieren erst die Übersicht, dann die Kontrolle über ihre finanzielle Situation (Mietschulden) und schließlich die Wohnung. Die Abwärtsspirale lässt sich kaum aufhalten und reißt die Frauen in den sozialen Abgrund.

Das Übernachtungshaus für wohnungslose Frauen in Leipzig ist ein Haus, wo Frauen nicht nur ein sauberes Bett und gute hygienische Bedingungen vorfinden, sondern gerade jenen Schutzraum erhalten, den sie so dringend benötigen, um ihre Würde als Frau zu behalten. Seit vielen Jahren zeigt sich der deutliche Trend, dass immer mehr Frauen neben den sozialen Problemen, auch an gesundheitlichen Einschränkungen, vor allem psychischen Erkrankungen, leiden. Zu dieser Abwärtsspirale ist in den letzten Jahren vermehrt der Teufelskreis der Sucht- und Drogenabhängigkeit hinzugekommen, aus dem es dann kaum noch ein Entrinnen gibt.

Diese Entwicklung stellt für die Mitarbeiterinnen im Übernachtungshaus seither eine besondere Herausforderung dar. Was immer möglich ist, wird dennoch getan, um diesen Frauen, den Weg zurück in ein halbwegs „normales“ Leben zu ermöglichen. Manchmal ist diese Arbeit erfolgreich, in der Mehrzahl der Fälle aber leider nicht.

In den letzten Wochen der Kältewelle hat das Übernachtungshaus seine Öffnungszeiten verlängert, damit Frauen ohne festen Wohnsitz nicht zu lange auf der Straße bleiben müssen. Das ist vielleicht nicht mehr als eine Geste, die die menschlichen und die sozialen Grundprobleme nicht lösen wird. Aber es ist ein Zeichen dafür, dass uns das Schicksal dieser Frauen nicht egal ist, und dass wir noch mehr für sie tun müssen, nicht erst wenn die nächste Kältewelle das Land wieder im Griff hat.

Länder wie z.B. Finnland machen vor wie es gehen könnte. Durch das Programm „Housing First“ erhält jeder finnische Bürger, wenn er seine Wohnung verliert, sofort eine neue dauerhafte Wohnung. Und das Ganze ist am Ende nicht einmal teurer, sondern hilft sogar Geld zu sparen.

Das Übernachtungshaus für wohnungslose Frauen in Leipzig befindet sich seit 1994 in Trägerschaft des Advent-Wohlfahrtswerkes. Das Haus hat insgesamt 24 Plätze und wird von aktuell 7 Mitarbeiterinnen, davon 2 Sozialpädagogen geführt.